Mein Opa mochte Rätsel. Kreuzworträtsel. Ich sehe ihn noch liegen auf dem kurzen Sofa, dicke Kissen im Rücken, die Beine hängen am anderen Ende über. In der Hand einen Kuli, auf dem Bauch ein Heft. Ich mümmel Hefezopf mit Nutella und gucke Blödsinn im Privatfernsehen. Bei Oma und Opa gab’s Kabel und Schlechtes aus Zucker. Zu Hause nicht.
Mein Opa guckte auch gerne Fernsehen. Noch lieber dachte er um die Ecke in der Hörzu. Wenn er was rausbekommen hatte, drehte er sich immer zu mir, hielt mir das Heft vor die Nase, las die verquere Frage noch mal vor und tippte mit dem Finger auf seine Antwort. Ich verstand gar nichts, nicht die Frage, nicht die Antwort. Schnell wieder Knight Rider.
Jetzt ist mein Opa tot. Er hatte keine dieser elenden Krankheiten, die Menschen am Ende in so ein groteskes Körperding verwandeln, das nichts mehr anfangen kann mit dem Leben. Dem man Erlösung wünscht.
Doch meinen Opa gab es schon lange nicht mehr. Nicht den Opa, der irgendwie unnahbar blieb, der aber, wenn wir beide zum Schwimmen fuhren, als erstes die Schlagerkassette ins Autoradio drückte und verträumt Roland Kaiser mitsang. Nicht den kraftmeiernden Opa, der darauf bestand, mit Mitte siebzig ein Sofa in meine erste Wohnung zu wuchten. Nicht den Opa, der weiß, wer ich bin, wenn ich ihn besuche.
Als ich jetzt über die Autobahn fahre, auf dem Weg zu seiner Beerdigung, bin ich traurig, aber nicht bedrückt. Verabschiedet habe ich mich längst. Ich kann mich erinnern, ohne zu hadern, ohne mir vorzuwerfen: “Ach, hättest Du doch noch…”. Und mir fällt ein: Das, was ich vom Tod halte, hat viel zu tun mit meinen Großeltern.
Es waren wieder Ferien, ich war wieder in der Eifel. Was genau passiert war, weiß ich nicht mehr, aber an diesem einen Tag wurde mir bewusst, dass das Leben irgendwann zu Ende ist. So wie man irgendwann nicht mehr an den Osterhasen glaubt, hatte ich plötzlich die brachiale Erkenntnis, dass mein erstes Meerschweinchen eben nicht auf einem sehr langen Ausflug war. Ich lag nachts im Bett und heulte wie noch nie. Das weiß ich noch. Ich wollte auf keinen Fall, dass einer aus meiner Nähe jemals dem Beispiel von Meersau Justus folgt. Meine Oma hat mir die Sache dann noch mal erklärt. Dass so ein Tod vielleicht gar nicht das endgültige Ende ist. Dann war auch wieder gut.
Mit meinem Opa bin ich einmal in der Woche auf den Friedhof gegangen, wenn ich zu Besuch war. Mit frischen Grablichtern haben wir jedes Mal die große Runde durch die Ahnengemeinde gemacht. Mein Opa erklärte mir bis ins Kleinste, vor wessen Grab wir gerade standen, während ich mit den Streichhölzern hantieren durfte. “Das ist also dein Großonkel väterlicherseits.” Ob mein Opa den Großonkel vermisste, hat er nie erzählt.
Die Beerdigung ist rum. Alle haben gesagt: “Jetzt ist der Jakob bei seiner Anna.” Eigentlich finde ich solche Sprüche albern. Weil sie nur eine Krücke sind für die Traurigen. Trauer ist die Sache der Lebenden, den Toten ist das doch egal. Aber heute habe ich das auch gesagt.
Jetzt, nach dem allerletzten Besuch, weiß ich, was mir am liebsten in Erinnerung bleibt: Mein Opa war ein Quatschkopf. Alte Witze und dumme Sprüche gehörten zu meiner Kindheit wie David Hasselhoff und Nussnougatcreme. Die Sprüche wurden weniger, die Witze rieselten irgendwohin, aber mit den Augen machte mein Opa immer Faxen.
Ins Grab haben wir ihm zwei Sachen gelegt: seine goldene Uhr und diesen komischen Stift, der in vier Farben schreiben kann. Mit dem hat er seine Rätsel gelöst.